Ein Essay von Heide Häusler zur Arbeit „Eva-04“ von Sabine SchründerAn Essay by Heide Häusler on the work „Eva–04“ by Sabine Schründer

Sabine Schründer ist keine Dokumentarfotografin, die sich den sozialen Realitäten in ihrer äußeren Erscheinung nähert. In ihrer Arbeit begegnet man vielmehr einer inneren Wirklichkeit, hervorgehoben durch einen bizarren Wechsel der Betrachtungsperspektiven.

Eva-04 ist vieles in gleicher Weise – Expedition in eine fremde und Reflexion in eine innere Gedankenwelt: In Japan entstanden, also in einiger Entfernung zu einem westeuropäischen Zuhause, formuliert die Arbeit grundlegende Gedanken, die das Individuum in der Gesellschaft und seiner sozialpsychologischen Verortung hinterfragen. Es ist eine junge Arbeit, deren Protagonisten am Set eines „Coming of Age“-Filmes posieren könnten: Himmelhohe Architekturen und Blumen, deren Wuchsrichtung kontrolliert, deren Wachstum dirigiert wird, die Poesie des Alltags zwischen standardisierten Häuserblocks und individuellen Wünschen, das Warten, das Hineinleben in ein System, der Strand und der Wald als Sehnsuchts- und Zufluchtsort.

Japan war für Sabine Schründer ein guter Ort, um sich einer Idee vom Individuum zu nähern, indem sie das komplexe und sensible Geflecht von Individuum und Gruppe, von Gruppe zu Gesellschaft fotografisch erkundete. Der Kleidungscode der Uniformen war kraftvolle Symbolik für ein Gesellschaftssystem, in dem das Kollektivbewusstsein, das „Miteinander-verzahnt-Sein“, das „Wir-sind-ein-Ganzes“ mehr zählt als das Streben nach individuellem Glück, das sich in einem Wertesystem der westlichen Welt durchgesetzt hat.

Die Arbeit entwickelt sich als multipolare Struktur, die auf inhaltlicher wie formaler Ebene neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen provoziert: Studio- vs. Außenfotografie, Einzelperson vs. Kollektiv, Natur vs. Architektur, integriert vs. exponiert. In der intelligenten Sequenzierung des Buches wird deutlich, dass sich die jeweiligen Pole jedoch in keiner Weise entgegenstehen oder widersprechen, sie erzählen vielmehr von einem bedingenden Verhältnis der verschiedenen Parameter, von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Stimmungen. Und deshalb zeigen die Fotografien natürlich viel mehr als heranwachsende junge Menschen an einem Strand in Japan. Sie führen den Betrachter in ein philosophisches Muster ein, das zur spezifischen Handschrift der künstlerischen Praxis Sabine Schründers wird.

Eva-04 stellt auf analytische Weise Fragen nach der Konstitution und Konstruktion des Individuums und anerkennt die multiplen Bezugsrahmen, in denen das Ich steckt. Eva-04 ist als Titel der Produktbezeichnung eines Bastelbausatzes für japanische Anime-Figuren entliehen. Ein fotografisches Abbild davon legt sich immer wieder, rhythmisierend, wie eine Matrix zwischen die Portraits und Landschaften. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, heißt es bei Wittgenstein. Die Arbeit Sabine Schründers wird zu einer Analogie dieses Satzes – das Einzelbild steht im Bezug zur gesamten Sequenz, erlangt Bedeutung durch die Ganzheit, genauso wie das Individuum sich zur Gesellschaft verhält: Das Ich sind die Anderen, das Ich ist das System.

„Über das Bedürfnis anders zu sein“ war der Arbeitsuntertitel für Eva-04. Angesichts der sichtbaren Tendenzen, tief verstrickt zu sein in größere, fest justierte Zusammenhänge, bekommt diese Aussage noch mehr Relevanz. Dem Bedürfnis zugrunde liegt die Idee, der schützenswerte Entwurf einer eigenen Identität, hart kontrastiert mit den Pattern der Realität.

Sabine Schründer is not a documentary photographer who approaches social realities in their outer appearance. In her work we encounter more of an inner reality, emphasised by bizarre changes of observational perspective.

Eva-04 is many things at the same time, an expedition to and reflection on a foreign mindset. Created in Japan, so at some distance from a Western European home, the work formulates basic ideas that question the socio-psychological location of the individual in society. It is a recent work, whose protagonists might be posing on the set of a coming-of-age film: towering buildings and flowers whose direction of growth is controlled and directed; everyday poetry between standardised architecture and individual wishes; waiting; becoming part of the system; the beach and the forest as haven and refuge.

Japan was a good place for Sabine Schründer to approach an idea of the individual by photographically exploring the sensitive nexus of individual and group, of group and society. The dress code of uniforms was the powerful symbol of a social system in which the collective consciousness, the sense of being ‘interlocked’, of ‘we are a whole’, counts more than the pursuit of individual happiness prevalent in the value system of the Western world.

The work develops as a multi-polar structure that prompts new forms of perception and knowledge on the level of both form and content: studio versus outdoor photography, single person versus collective, nature versus architecture, integrated versus exposed. In the book’s intelligent sequencing it becomes clear that these poles are not opposite or contradictory but narrate more of a conditional relationship between the various parameters, a simultaneity of differing moods. And for this reason the photographs naturally shows much more than young people on a beach in Japan. They introduce the viewer to a philosophical pattern that becomes the specific handwriting of Sabine Schründer’s artistic practice.

Eva-04 analytically poses questions about the constitution and construction of the individual, and recognises the multiple frames of reference in which the self is embedded. The title is taken from the product description of a hobby assembly kit for anime figures. A photographic image of this kit is inserted rhythmically between the portraits and landscapes like a matrix. ‘The meaning of a word is its use in the language’, said Wittgenstein. Sabine Schründer’s work becomes an analogy of this claim – the individual image stands in relationship to the entire sequence, gaining meaning through the whole, just as the individual relates to society: the self is the others; the self is the system.

‘On the need to be different’ was the working title for Eva-04. Given the visible tendencies towards deep entanglement in larger, rigidly aligned contexts, this statement takes on even more relevance. At base this need is for an identity of one’s own, cherished in sharp contrast to the patterns of reality.

Buch, Offset-Druck, 2. überarbeitete Auflage, 2014book, Offset, 2nd revised edition, 2014